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Interview mit Kerstin Blochberger
Im Interview sprechen wir mit Kerstin Blochberger, Sozialarbeiterin & Geschäftsführerin des Bundesverbandes behinderter und chronisch kranker Eltern.
Kerstin Blochberger ist Gründungsmitglied im Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern – bbe e. V. Sie ist Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin in der bundesweiten Beratungsstelle des bbe in Hannover. Im Interview spricht sie darüber, was Eltern mit Behinderungen an Teilhabeleistungen zusteht, wo sie Hilfe bekommen können und wie auch pflegende Kinder und Jugendliche dadurch wirksam entlastet werden.
Pausentaste: Frau Blochberger, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren können frühzeitig Entlastung erfahren, bevor sie zu viel Pflegeaufgaben übernehmen. Denn ihren Eltern stehen häufig Teilhabeleistungen zu. Wer hat Anspruch auf diese Leistungen und wie sehen diese Leistungen einzeln aus?
Kerstin Blochberger: Für die eigene Pflege können Eltern mit Behinderung die Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) oder ergänzend bei Bedarf Hilfe zur Pflege nach (SGB XII) in Anspruch nehmen. Das betrifft aber nur den eigenen Pflege- und Haushaltsbedarf, egal wie viele Kinder der Elternteil auch zu versorgen hat. Wenn Mütter und Väter aufgrund ihrer eigenen Behinderung Assistenzbedarf bei der Betreuung und Versorgung ihrer Kinder haben, können sie laut § 78 Absatz 3 SGB IX Assistenz bei der Betreuung und Versorgung der Kinder nutzen. Das ist keine Sozialhilfe, sondern eine Teilhabeleistung – also ein Nachteilsausgleich. Jetzt komme ich zu den einzelnen Teilhabeleistungen. In der Praxis haben sich verschiedene Begriffe für die Leistungen durchgesetzt: Elternassistenz nennt man die Assistenz für Eltern mit Behinderung, wenn sie selbst die Assistenzkräfte anleiten und die Erziehungsverantwortung komplett selbst ausüben. Begleitete Elternschaft nennt man die sogenannte qualifizierte Assistenz für Eltern mit Behinderung, wenn behinderungsbedingt auch pädagogische Aufgaben damit verbunden sind. Die Eltern mit Behinderung werden dann durch die Assistenzkräfte auch in ihrer Erziehungskompetenz angeleitet und begleitet.
Sie haben die Elternassistenz erwähnt, die Eltern mit Behinderung oder chronischer Krankheit unterstützt, um ihre Kinder zu versorgen. Die Elternassistenz wird auch als „verlängerter Arm“ der Mutter oder des Vaters beschrieben. Welche konkreten Aufgaben übernehmen die Assistentinnen und Assistenten?
Die Elternassistenzkräfte führen das aus, was die Eltern aufgrund der Behinderung nicht gut umsetzen können. Die Eltern entscheiden selbst, was, wann, wie von der Elternassistenz gemacht wird. Das kann das Wickeln und Füttern des Kindes sein, aber auch das Putzen, Wäschewaschen, Einkaufen, Kochen für die Kinder. Es kann auch die Hilfe beim Spielplatzbesuch oder anderen Freizeitaktivitäten der Familie, beim Elternabend oder bei gemeinsamen Ausflügen der Eltern und Kinder mit der Kita beinhalten oder die Begleitung im Urlaub oder zu Besuchen bei Freunden und Familie. Wenn ein akuter Schub die Eltern hindert, das Kind morgens zur Kita zu bringen, kann das auch die Elternassistenz übernehmen. So ist der Kitabesuch fürs Kind gesichert, auch wenn die Mutter den Weg dorthin nicht selbst schafft.
Einige Eltern wollen trotz Anspruch keine Assistentinnen und Assistenten im alltäglichen Familienleben haben. Welche Vorbehalte gibt es und was sagen Sie den Eltern, die skeptisch sind?
Eltern fürchten einerseits ständige Eingriffe in ihre Erziehung, das ist für viele Eltern ein schwieriges Thema. Manche Eltern sagen, sie wollen es allein schaffen und „so normal wie möglich sein“. Verantwortungsvolles Handeln als Elternteil ist allerdings, Hilfen in Anspruch zu nehmen, damit die Kinder sich gut entwickeln können - unabhängig von der Behinderung der Eltern. Es ist nicht normal, dass ein minderjähriges Kind seine Eltern pflegt. Es ist auch nicht normal, dass ein 5-jähriges Kind seiner blinden Mutter den richtigen Bus aussucht, weil sie die Busnummer nicht sehen kann. Verantwortungsvoll ist es, die eigenen Unterstützungsbedarfe wahrzunehmen und die eigenen Kinder nicht als Assistenz zu benutzen.
Was sollte bei der Rollenverteilung zwischen Eltern und Assistenz beachtet werden?
Eltern haben die Verantwortung für die Kinder, nicht die Assistenzkräfte. Die Elternassistenzkräfte haben keinen pädagogischen Auftrag. In Situationen, in denen Elternassistenzkräfte die Kinder allein beaufsichtigen (z. B. während der Therapie der Eltern), handeln sie auch im Sinne der Eltern und nicht nach ihrer eigenen Erziehungsvorstellungen. Deshalb haben Elternassistenzkräfte auch keine pädagogische Ausbildung.
Wo finden Eltern nähere Informationen zur Elternassistenz und wie kann diese beantragt werden?
In jedem Landkreis oder jeder größeren Stadt gibt es EUTB´s – Ergänzende Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen, die kostenlos beraten und beim Antrag oder bei der Bedarfsermittlung für Elternassistenz und aller anderen Teilhabeleistungen unterstützen. Es gibt im Internet auch einen Ratgeber mit einem Musterantrag und einer Checkliste – in welchen Bereichen Elternassistenz nötig sein kann: https://www.behinderte-eltern.de/Papoo_CMS/index.php?menuid=84
Zum Schluss kommen wir erneut zu den pflegenden Kindern und Jugendlichen. Eine frühzeitige Unterstützung durch eine Elternassistenz kann helfen, dass Kinder und Jugendliche nicht in eine Pflegesituation hineinwachsen. Welche weiteren Entlastungsmöglichkeiten sehen Sie noch?
Barrierefreie Wohnungen und barrierefreie Kinder- und Babymöbel versetzen den Elternteil mit Behinderung in die Lage, selbstbestimmter mit dem Kind umgehen zu können. Der Austausch mit anderen Eltern mit Behinderung hilft auch, um kreative Lösungen im Alltag zu finden oder um Probleme im Umgang mit der Elternassistenz im Familienalltag zu lösen. Entlastung bietet auch der Abschied von der Vorstellung, immer perfekt sein zu müssen. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, die alles allein schaffen. Kinder brauchen Eltern, die ihnen im Umgang mit den eigenen Unterstützungsbedarfen Wege zeigen. So können die Kinder erleben, dass sich auch Erwachsene rechtzeitig Unterstützung suchen können. Minderjährige Kinder als Assistenz zu nutzen, darf und muss heute keine „Entlastungsmöglichkeit“ für die Eltern mehr sein. Wenn Eltern akut schwer erkrankt sind und ggf. ein früher Tod der Eltern im Raum (z. B. bei Krebs, Schlaganfall, Unfallfolgen) steht, sind Austauschmöglichkeiten mit anderen Kindern und Auszeiten von der belastenden Familiensituation für die Kinder wichtig. Minderjährige Kinder dürfen auch ihren Eltern im Familienalltag altersgerecht im Haushalt helfen oder bei Assistenzausfall öfter mal die Wäsche machen. Intimpflege der eigenen Eltern, mit 11 Jahren komplett die eigene Wäsche selbst waschen oder für die Eltern immer das Essen machen, das ist nicht die Aufgabe von Kindern. Das hat der Gesetzgeber 2018 erkannt – jetzt müssen die Eltern informiert werden, dass sie diesen Assistenzanspruch haben. Alle, die mit Kindern zu tun haben, sollten diese Eltern bei Bedarf auf die Assistenzmöglichkeiten hinweisen und sie bei der Umsetzung unterstützen. Der Assistenzanspruch ist eine der wichtigsten Entlastungsmöglichkeiten für die Kinder.