Ein Junge steht mit iner Hand angelehnt an einer Küchenzeile

Pflegende Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund

Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts waren Ende des Jahres 2022 über 3 Millionen Schutzsuchende[1] im Ausländerzentralregister erfasst. Dies entspricht einer Steigerung von über einer Millionen Schutzsuchenden im Vergleich zum Vorjahr 2021, was vor allem auf die Fluchtmigration aus der Ukraine zurückzuführen ist. Für Geflüchtete aus der Ukraine gelten Sonderregelungen, die sich aus dem EU-Recht begründen. Sie erhalten einen humanitären Aufenthaltstitel, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen und haben europaweit Zugang zu Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsleistungen sowie zum Arbeitsmarkt.

Neben Schutzsuchenden aus der Ukraine kamen bis Ende 2022 überwiegend syrische, afghanische, irakische und türkische Staatsangehörige nach Deutschland. Der Anteil aller minderjährigen Schutzsuchenden im Jahr 2022 lag laut des Statistischen Bundesamts bei 30 %, wobei der Anteil der Minderjährigen aus der Ukraine mit 33 % etwas höher war. Hinter diesen Zahlen verbergen sich somit nicht nur unzählige Einzel- und Familienschicksale, sondern auch Geflüchtete aus unterschiedlichen Herkunftsländern mit jeweils anderen ökonomischen, sozialen und kulturellen Hintergründen.

Zusammenhänge von Fluchterfahrung und seelischen Erkrankungen

Im Hinblick auf die psychische Gesundheitssituation ist ein enger Zusammenhang zwischen Fluchterfahrungen und der Häufung von seelischen Erkrankungen ausgemacht worden. Obwohl nur wenige empirische Studien vorliegen, gehen Schätzungen davon aus, dass posttraumatische Belastungsstörungen bei Flüchtlingen sowie Asylbewerberinnen und Asylbewerbern um das 8- bis 17-fache häufiger vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung.[2] Leiden Eltern unter seelischen Erkrankungen, fällt es ihnen weitaus schwerer, Kindern Halt, Orientierung und emotionale Sicherheit zu geben. Gerade im Hinblick auf die herausfordernden Übergangs- und Anpassungsprozesse an die neuen Lebensbedingungen im Aufnahmeland können demnach wichtige elterliche Stabilisierungsfunktionen ausfallen, „erleben die Kinder ihre Eltern selber als hilflos und können sie daher nicht mehr in ihrer Rolle als Beschützer wahrnehmen.“[3] Georg Romer machte auf dem 6. Fachtag „Pausentaste“ in seinem Vortrag „Aufwachsen mit kranken Eltern – Psychische Belastungen und Möglichkeiten der Bewältigung“ ebenfalls darauf aufmerksam, dass kranke Eltern und ihre Kinder bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben wiederkehrend spezifische Anpassungsleistungen zu vollbringen hätten. Diese veränderten Anforderungen könnten sich auf die Eltern-Kind-Beziehung und die Bindungsqualität auswirken und beispielsweise eine Parentifizierung (Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern) bedingen.

Bei einer dauerhaften Pflegeübernahme haben Kinder von psychisch erkrankten Eltern zusätzlich ein erhöhtes Risiko, selbst seelische Erkrankungen auszubilden.[4] Das Risiko, dass Pflege als psychisch belastend empfunden wird, wächst daher mit dem Grad und der Dauer der Pflegeverantwortung der Kinder und Jugendlichen, der Übernahme nicht-altersgerechter Aufgaben und dem Fehlen bzw. der eingeschränkten Verfügbarkeit an professionellen und informellen Unterstützungsnetzwerken (Pflegedienste, Verwandte, Freundinnen und Freunde).[5]

Barrieren für die Inanspruchnahme von Unterstützung

Familien mit Fluchtbiografie sind insofern häufiger mit schwerwiegenden (psychischen) Krankheitsverläufen konfrontiert, während die Barrieren für die Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsleistungen besonders hoch erscheinen. Dazu zählen aufenthaltsrechtliche Hürden, strukturelle Diskriminierungen, sprachliche Barrieren sowie geringe Kenntnisse zu Hilfesystemen und Unterstützungsangeboten.[6] Verwandtschaftliche und informelle Hilfenetzwerke zur Bewältigung der familiären (Pflege-)Situation im Aufnahmeland existieren vielfach (noch) nicht, da Familien aufgrund der Fluchtbewegungen häufig über mehrere Länder verstreut sind.[7]

Eine Distanz zu Behörden und öffentlichen Einrichtungen, die durch staatlichen Machtmissbrauch, Gewalt und Willkür in den Herkunftsländern bedingt ist, kann es ebenfalls erschweren, pflegende Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien zu erreichen. Neben einer fehlenden Selbstwahrnehmung als pflegende Person tragen auch Sorgen um ein Auseinanderbrechen der Familie wie auch kulturelle Normen von Scham dazu bei, dass die familiäre Pflegesituation nicht offen nach außen kommuniziert wird.[8]

Rolle von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund

Kinder und Jugendliche übernehmen häufig im Rahmen der Flucht bereits sehr viel Verantwortung, um das Familiensystem zu stabilisieren. Je nach Alter und Fähigkeit kümmern sie sich um jüngere Geschwister, geben Familienmitgliedern emotionale Unterstützung und helfen mit bei der Fluchtorganisation.

Einerseits wird diese Rolle nicht per se als problematisch angesehen: „Das Kind kann in diesem Sinne seine eigenen Stärken und Fähigkeiten einbringen, die Erfahrung machen, zumindest Anteile der Fluchtsituationen zu kontrollieren und dazu beitragen, das Ziel trotz Hindernissen zu erreichen.“[9] Kinder und Jugendliche mit Fluchtgeschichte haben somit bereits Ressourcen zur Bewältigung von Krisen ausgebildet, an die Hilfs- und Beratungsangebote auch andocken können.[10] Andererseits besteht die Gefahr, v. a. wenn Traumatisierungen der Eltern auftreten, dass Kinder und Jugendliche auch nach der Flucht in ihrer nicht-altersgerechten Rolle verbleiben und eigene Bedürfnisse hinter die familiären Erfordernisse gestellt werden.[11] Selbst Dolmetschertätigkeiten, die aufgrund des schnelleren Spracherwerbs meist von Kindern und Jugendlichen übernommen werden, können eine Rollenumkehr verstärken und die Kinder und Jugendlichen erneut mit belastenden familiären Fluchterfahrungen konfrontieren.[12] Dabei sind bereits die sozialen, sprachlichen und kulturellen Anpassungsleistungen der Kinder und Jugendlichen an eine neue Lebenswelt höchst voraussetzungsvoll. Durch eine umfangreiche und nicht-altersgerechte innerfamiliäre (pflegerische, administrative und sprachliche) Verantwortungsübernahme können Kinder und Jugendliche somit weiter in ihren Teilhabechancen beeinträchtigt werden, die vielfach bereits aufgrund ungleicher sozioökonomischer Voraussetzungen (z. B. Armut, beengte Wohnverhältnisse, etc.) geringer sind.

Bundesweite Unterstützungsangebote

Das Bundesfamilienministerium setzt sich mit zahlreichen Initiativen und Unterstützungsangeboten dafür ein, dass geflüchtete Menschen in Deutschland gut ankommen und leichter in einen Alltag zurückfinden. Hier finden Sie weitere Informationen zu den unterschiedlichen Angeboten.

Das zentrale Hilfeportal der Bundesregierung „Germany4Ukraine“ bietet Geflüchteten aus der Ukraine eine erste Orientierung. Es beantwortet Fragen zu Unterkünften, ärztlicher Versorgung, zu grundlegenden Aspekten des Aufenthalts und mehr – auf Ukrainisch, Deutsch und Englisch.

Das Portal „Migration und Gesundheit“ ist ein Angebot des Bundesgesundheitsministeriums. Es richtet sich an Migrantinnen und Migranten sowie an haupt- und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die Zuwanderer nach ihrer Ankunft unterstützen.

 


[1] Das Statistische Bundesamt fasst unter dem Begriff Schutzsuchende „Ausländerinnen und Ausländer, die sich unter Berufung auf völkerrechtliche, humanitäre oder politische Gründe in Deutschland aufhalten.“

[2] Vgl. Dieter Wälte, Deborah Gauert: Traumata von Flucht und Vertreibung – Hilfen durch Psychotherapie und Beratung bei Posttraumatischer Belastungsstörung, in: Gunzelin Schmid Noerr / Waltraud Meints-Stender (Hrsg.): Geflüchtete Menschen. Ankommen in der Kommune. Theoretische Beiträge und Berichte aus der Praxis, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, S. 103-124, hier S. 116. 

[3] Michael Borg-Laufs: Umgang mit Traumatisierung bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen, in: Gunzelin Schmid Noerr / Waltraud Meints-Stender (Hrsg.): Geflüchtete Menschen. Ankommen in der Kommune. Theoretische Beiträge und Berichte aus der Praxis, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, S. 95-102, hier S. 96.

[4] Vgl. Georg Romer: Pflegende Kinder: Bewältigung psychischer Belastungen, in: ZQP-Report. Junge Pflegende, Berlin 2017, S. 94-98, hier S. 94, online einsehbar unter https://www.zqp.de/wp-content/uploads/ZQP_2017_Report_JungePflegende.pdf.

[5] Vgl. ebd., S. 96.

[6] Vgl. Antje Krueger: Ressourcen/Resilienz, in: Luise Hartwig / Gerald Mennen / Christian Schrapper (Hrsg.): Handbuch. Soziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien, Weinheim u. Basel 2017, S, 468-475, hier S. 473; vgl. Antje Krueger: Gesundheit und Krankheit, in: Luise Hartwig / Gerald Mennen / Christian Schrapper (Hrsg.): Handbuch. Soziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien, Weinheim u. Basel 2017, S. 432-440, hier S. 433.

[7] Der Migrationsforscher Jochen Oltmer macht aber darauf aufmerksam, dass Migration „vornehmlich in Netzwerken“ stattfinde, „die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert“ sei. Jochen Oltmer:  Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020, S. 268.   

[8] Vgl. A Al-Mousa: Who Cares? Refugee and Migrant Young People with Caring Responsibilities Background Paper 2010, online einsehbar unter https://www.cmy.net.au/wp-content/uploads/2021/07/Who-Cares-Background-paper-2010.pdf.

[9] Krueger: Ressourcen/Resilienz, S. 473.

[10] Vgl. ebd., S. 474.

[11] Vgl. ebd., S. 473.

[12] Vgl. Borg-Laufs: Umgang mit Traumatisierung, S. 97.

 

Bildrechte © Philipp Arnoldt