Benedikt Wirth arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Integration beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), das vom BMFSFJ gefördert wird. Mit ihm sprechen wir über das Projekt „Kinderdolmetscher – Kultur- und Sprachmittlung in schulischen Kontexten“.
1.) Herr Wirth, Sie betreuen das Projekt „Kinderdolmetscher“ am DeZIM. Können Sie kurz ausführen, was Sie im Projekt konkret untersuchen und warum das Projekt gesellschaftspolitisch wichtig ist?
Das Projekt untersucht bis Dezember 2026, wie und wann Kinder und Jugendliche in der Schule für Familienmitglieder oder Mitschüler*innen übersetzen und anderweitig vermitteln und was das für sie bedeutet. Dabei werden die Perspektiven von Schüler*innen, ihren Familien sowie des Schulpersonals und anderer Akteur*innen der Bildungslandschaft einbezogen. Im Fokus steht auch, wie Schule und andere Bildungseinrichtungen handeln und wie betroffene Kinder und Jugendliche sowie andere Expert*innen dieses Handeln erleben. Inwieweit nutzen und fördern Schulen vorhandene Potenziale der (Sprach-)Mittlung? Wie erleben Schüler*innen, Familien und auch das Schulpersonal das Übersetzen und Vermitteln? Wie lässt sich Kinderdolmetschen inklusiv gestalten?
In unserer postmigrantischen Gesellschaft ist es für viele Kinder und Jugendliche alltäglich, zu dolmetschen oder anderes Wissen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen weiterzugeben.
Je nachdem, wie mit (Sprach-)Mittlungstätigkeiten in Bildungseinrichtungen umgegangen wird und in welchen Kontexten sie stattfinden, können sie die Erfahrungen und Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen negativ oder positiv beeinflussen. Insbesondere im Umgang mit Mehrsprachigkeit machen Kinder und Jugendliche noch immer allzu oft negative Erfahrungen in Kita und Schule, etwa dass ihre Familiensprache abgewertet wird oder sie in die Rolle der Dolmetschenden „gedrängt“ werden. In Deutschland gibt es bisher keine umfängliche Studie, die das Phänomen des Kinderdolmetschens in den Blick nimmt.
2.) Zugewanderte Kinder und Jugendliche lernen die Sprache oft schneller als ihre Eltern. Das heißt aber auch, dass die Kinder und Jugendlichen sehr viel Verantwortung tragen. Denn zu dolmetschen, das ist mehr als reine Übersetzung. Welche Aufgaben stecken noch dahinter – in der Schule und im Alltag?
Kinderdolmetschen umfasst vielfältige Tätigkeiten und betrifft nicht ausschließlich neu zugewanderte Familien. Vermittlung findet auch zwischen Schüler*innen ohne Migrationsgeschichte statt, etwa bei digitaler Bildung oder im Fall von hörenden Kindern gehörloser Erwachsener. Aus unterschiedlichen internationalen Studien wissen wir, dass Kinder und Jugendliche, die für Bezugspersonen übersetzen, oft nicht einfach „nur“ die Sprache übersetzen, sondern etwa auch Wissen über Systeme und Institutionen oder soziale Beziehungen (z. B. die Persönlichkeiten von Lehrkräften) vermitteln. Forschungen zum sogenannten Laiendolmetschen oder auch „Community Interpreting“ zeigen, dass selten Wort für Wort übersetzt wird, sondern mitunter viele Nebenschauplätze dazu gehören, die viele Kompetenzen voraussetzen – so auch bei Kindern und Jugendlichen.
3.) Da liegt eine Rollenumkehr nahe, also dass Kinder eigentlich die Tätigkeiten von Eltern übernehmen, wenn wir die vielfältigen Dolmetscheraufgaben betrachten. Ist das nicht ein schmaler Grat zwischen Überforderung und Anpassung an eine neue Lebenswelt?
Internationale Studien kommen hier zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zum einen gibt es Bedenken hinsichtlich einer Rollenumkehr und Mehrbelastung, zum anderen gibt es Studien, die das Vermitteln als familiäre Pflegepraxis, ähnlich wie Haushaltsaufgaben, und somit als für Kinder und die restliche Familie wertvolle Ressource beschreiben. In der deutschen Zivilgesellschaft gibt es hierzu unterschiedliche Stimmen: Die einen fordern mehr Anerkennung für die Übersetzungsleistungen, die Kinder und Jugendliche erbringen und betonen positiven Aspekte, wie Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Andere Verbände fordern, das Kinderdolmetschen per se zu vermeiden.
Aus der Mehrsprachigkeitsforschung wissen wir, dass das Bildungssystem entgegen unseren gesellschaftlichen Realitäten von Einsprachigkeit ausgeht. Mit Mehrsprachigkeit – von Ausnahmen wie Englisch oder Französisch abgesehen – wird oft defizitär umgegangen. Das führt mitunter dazu, dass mehrsprachig sozialisierte Kinder und Jugendliche ihre Sprachpotenziale in Kitas und Schulen nicht vollumfänglich entfalten können. Sie erleben Bildungseinrichtungen als Orte, an denen ihre nicht-deutschen Sprachfähigkeiten keine Rolle spielen. Gerade in solchen Settings kann auch das Kinderdolmetschen in Teilen sicherlich zur Mehrbelastung werden. International zeigt sich aber, dass Übersetzungsarbeit nicht kategorisch als Belastung wahrgenommen wird. Häufig bewerten Kinder und Jugendliche das Dolmetschen zum Beispiel eher positiv: Sie können ihre Fähigkeiten einsetzen, anderen Menschen helfen und Anerkennung erfahren.
4.) Das Projekt „Kinderdolmetscher“, darauf haben Sie bereits hingewiesen, dockt im Schulbereich an. Auch wenn die Forschung dazu noch läuft. Gibt es bereits Vermutungen, welche Rahmenbedingungen in und außerhalb der Schule die Situation der Kinder und Jugendlichen verbessern könnten?
Es braucht Professionalisierungskonzepte für den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Bildungssystem. Teilweise gibt es diese bereits, doch sie müssten institutionell verankert und mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden. Insbesondere in Bezug auf Kinderdolmetschen mangelt es jedoch an evidenzbasierten Konzepten. Diese gilt es ganzheitlich, mit Blick auf institutionelle Praktiken, Organisationsprozesse in Bildungseinrichtungen und mit Blick auf Curricula, zu erarbeiten. Allgemein sollten Übersetzungs- und Vermittlungsangebote durch professionelle (Sprach-)Mittlung in allen Schulbezirken zugänglich sein, gerade in Situationen, in denen Eltern oder Kinder die jeweilige Abwesenheit bevorzugen.
5.) Und was kann das Lehr- und Erziehungspersonal tun, damit die Kinder und Jugendlichen beim Dolmetschen entlastet werden?
Hier gibt es viele Ansatzpunkte. Ganz praktisch können zum Beispiel Elternbriefe und Informationsschreiben digital statt postalisch verschickt werden, eventuell ergänzt um mehrsprachige Hinweise zu Online-Übersetzungstools. Dadurch könnte sich vermeiden lassen, dass Schüler*innen diese Schreiben übersetzen müssen. Lehr- und Erziehungspersonal kann zudem vor allem bei Schlüsselfragen auf niedrigschwellige und diversitätsbewusste Informationsformate (z.B. einfache Sprache) setzen, sodass möglichst alle verstehen können, was kommuniziert wird.
Außerdem könnte eine Übersicht zu bestehenden Unterstützungsnetzwerken für Schulen helfen, (Sprach-)Mittlungsangebote zugänglicher zu machen. Unser Projekt arbeitet an Handlungsempfehlungen und beteiligt dafür Kinder und Jugendliche, die das Thema betrifft.
Bildquelle: DeZIM-Institut