Portrait einer Frau mit Kurzhaarschnitt und blauem Oberteil

„(Aus-)Bildung und Pflege zu vereinbaren ist nicht einfach. Ich würde jedem raten: Macht es trotzdem!“

Dr. Anna Wanka ist Soziologin und Altersforscherin. Sie koordiniert das Forschungsprojekt „InterCare“, das länderübergreifend untersucht (Deutschland, Polen, Großbritannien), mit welchen Herausforderungen junge Studierende und Auszubildende bei der Vereinbarkeit von Pflege und Ausbildung konfrontiert sind. Außerdem will das Projekt herausfinden, wie pflegende Studierende und Auszubildende besser unterstützt werden können. 

 

Frau Wanka, wie sind Sie zu dem Forschungsthema Vereinbarkeit von Pflege und Studium gekommen? 

Ich habe 2019 begonnen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. In einem Seminar, das ich gehalten habe, war ein Studierender, der seine Eltern gepflegt und deswegen um eine Fristverlängerung für die Abgabe seiner Hausarbeit gebeten hat. Ich habe darüber mit Kolleg:innen, also anderen Dozierenden, gesprochen und habe häufig zu hören bekommen, dass das eine weit verbreitete Ausrede sei – nach dem Motto „Die Oma ist gestorben“ wäre das neue „Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen“. Wenig später ist Moritz Hess, Professor an der Hochschule Niederrhein, auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob wir gemeinsam zu dem Thema forschen wollen. Er hatte dieselbe Erfahrung gemacht, dass zunehmend Studierende mit Pflegeverpflichtung in seinen Seminaren waren und seine Kolleg:innen die Problematik der Vereinbarkeit zwischen Studium und Pflege wenn überhaupt als Nischenthema abgetan hatten. 

 

Nach Zahlen der Studierendenbefragung aus dem Jahr 2021 gaben 12 Prozent der Studierenden in Deutschland an, eine nahestehende Person im Umfeld zu pflegen. Bekommt diese Gruppe genug gesellschaftliche Aufmerksamkeit, wenn über Vereinbarkeitsherausforderungen gesprochen wird? 

Die Gruppe der pflegenden Studierenden bekommt leider absolut noch nicht so viel Aufmerksamkeit, wie sie verdient hätte. 12 Prozent der Studierenden in Deutschland bedeutet mehr als 350.000 Menschen, die völlig unter dem Radar der sozialen und politischen Aufmerksamkeit leben und die Herausforderungen der (Un-)Vereinbarkeit von Bildung und Pflege oft alleine bewältigen müssen. In der Literatur gibt es hier den Begriff der „hidden lives“, also „versteckte Leben“. 

 

Was meint der Begriff „versteckte Leben“ konkret und wie kommt es dazu, dass sich pflegende Studierende „verstecken“? 

Auf der einen Seite wollen Betroffene selber nicht, dass andere – etwa Dozierende oder ihre Kommiliton:innen - von ihrem „zweiten Leben“ als Pflegende:r erfahren. Pflege für ältere Menschen ist in unserer Gesellschaft nämlich leider eher schambehaftet und wird nicht als schöne, erfüllende oder lehrreiche Tätigkeit gesehen. Gerade bei jungen Menschen stehen Pflegetätigkeiten den sogenannten „Chrononormen“ entgegen, also normativen Vorstellungen und Erwartungen, was man in welcher Lebensphase machen soll. Menschen zwischen 18 und 30 sollen sich nach diesen Chrononormen bilden, erste Beziehungen eingehen. Sie sollen sich aber auch ausleben, Party machen und sich selbst finden. Diese Erwartungen sind nicht mit der Pflege der an Demenz erkrankten Oma vereinbar. Entsprechend widerspricht Pflegen im jungen Alter diesen Chrononormen und wird dadurch noch stärker tabuisiert und schambehaftet. 

Auf der anderen Seite sehen aber auch (Bildungs-)Institutionen nicht, dass ihre Studierenden oder Auszubildenden auch Pflegende sind. Diese Blindheit entsteht aus demselben Grund: Es wird angenommen, dass junge Menschen frei von Pflegeverpflichtungen sind. Gerade an Universitäten ist der männliche, weiße, junge Vollzeitstudierende ohne Nebenjob und ohne Sorgetätigkeiten noch immer das Ideal. 

 

Mit welchen besonderen Belastungen sind pflegende Studierende konfrontiert? 

Es gibt noch nicht viel Literatur zu pflegenden Studierenden und wenn, dann fokussiert die Datenbasis meistens auf eine einzelne Hochschule oder einen Studiengang. Daher sind die Ergebnisse, die ich hier wiedergeben kann, größtenteils nicht verallgemeinerbar. Nichtsdestotrotz kommen die meisten Studien zu denselben Ergebnissen, nämlich, dass pflegende Studierende unter physischen und vor allem psychischen Belastungen leiden, dass ihr Stressempfinden größer ist, dass ihr Studienerfolg leidet und sie häufiger das Studium abbrechen als Studierende ohne Pflegeverpflichtungen. 

Eine aktuelle Auswertung der 21. Studierendenerhebung, die repräsentative Zahlen liefert, bestätigt diese Ergebnisse für Deutschland. Aber Studien zeigen vereinzelt auch, dass pflegende Studierende höhere soziale Kompetenzen aufweisen und die intergenerationalen Beziehungen verbessert werden. 

 

Sehen Sie auch Folgewirkungen über den gesamten Lebenslauf bei pflegenden Studierenden? 

Wer im Studium pflegt, dadurch seine Gesundheit belastet, schlechte Noten bekommt und vielleicht sogar das Studium abbricht, hat schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt. Vielleicht kommen auch Probleme dazu, romantische Beziehungen einzugehen oder eine eigene Familie zu gründen. Wer im Studium pflegt, übernimmt – aufgrund der Erfahrung – später wahrscheinlicher weitere Pflegetätigkeiten in der Familie, und wird so in eine Kette von kumulierenden Nachteilen verwickelt, die bis zu einer verringerten Lebenserwartung führen können. 

Ich will das Bild aber hier nicht zu schwarzmalen, denn Pflegen bringt auch viele Vorteile sowohl für die Pflegenden als auch die Personen, die gepflegt werden: soziale Kompetenzen werden ausgebaut und intergenerationale Beziehungen verbessert. Junge Menschen können also sehr wohl von Pflegeverantwortung profitieren, wenn sie ausreichend unterstützt werden. 

 

Gibt es denn Gruppen von Studierenden, die häufiger pflegen als andere?

Ja, es gibt spezifische Gruppen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, im Studium zu pflegen. Das sind nämlich ältere Studierende, Studierende mit Migrationshintergrund, sowie Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern. Das sind alles Gruppen, die im Studium ohnehin schon benachteiligt sind und die Pflegetätigkeit macht es ihnen dann nicht gerade leichter. 

In Bezug auf Geschlechter-Unterschiede sehen wir interessanterweise gemischte Befunde. Es sind also im Studium nicht unbedingt eher Frauen, die Angehörige pflegen – also anders als im mittleren Lebensalter.

 

Wie gut sind die Hochschulen auf die wachsende Gruppe der pflegenden Studierenden vorbereitet? 

Noch sind die deutschen Hochschulen nicht besonders gut auf die wachsende Gruppe der pflegenden Studierenden vorbereitet, aber wir sehen durchaus vielversprechende Ansätze. Wichtig sind hier unserer Forschung nach vier Punkte: (1) Aufmerksamkeit erhöhen, (2) Wissen schaffen, (3) bestehende Angebote öffnen, und (4) spezifische Angebote schaffen. 

Zum ersten Punkt ist es wichtig, dass Hochschulen, aber auch Politik und Öffentlichkeit anerkennen, dass diese Gruppe überhaupt existiert. Wir sollten also darüber sprechen, pflegende Studierende in die Medien bringen, ihre Situation sichtbar machen, und dabei sowohl die positiven als auch die negativen Seiten benennen. Denn: Pflegen ist keine reine Bürde. 

Ein Teil dieser Sichtbarmachung ist, zweitens, dass Hochschulen wissen, wie viele Studierende an ihrer Institution pflegen, wer das ist, in welchen Fächern sie studieren und mit welchen Schwierigkeiten sie dort zu kämpfen haben. Das sollte einerseits auf Universitätsebene geschehen, kann aber auch in einzelnen Seminaren anonymisiert von den Dozierenden erhoben werden. 

Drittens gibt es an vielen Hochschulen schon Unterstützung für Studierende mit Kind oder pflegende Angehörige unter den Mitarbeiter:innen. Diese könnten ganz einfach auf pflegende Studierende ausgeweitet werden. Das kann ein Pflegestammtisch sein, der dann nicht nur für Mitarbeiter:innen, sondern auch für Studierende geöffnet ist, oder Pflege älterer Menschen kann als Nachteilsausgleichsgrund anerkannt werden. 

Hier sind wir dann auch beim vierten Punkt, nämlich das Schaffen von neuen Angeboten spezifisch für diese Zielgruppe. Eine Person, die wir interviewt haben, meinte etwa: Es gibt hier am Campus eine Kita, aber kein Tageszentrum – warum eigentlich nicht? Teilweise hören wir von den Hochschulen auch, dass sie eh bereits Angebote, beispielsweise eine Seminarreihe, organisiert haben, aber dass niemand kommen würde, weil die Seminarreihe nachmittags ist, wenn die zu pflegende Person betreut werden müsste, und sie nicht online oder hybrid angeboten wird. Es ist daher auch ganz wichtig, dass diese Angebote gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt werden, damit solche „mismatches“ nicht passieren. 

 

Die Entscheidung für ein Studium oder eine Ausbildung ist für junge Pflegende häufig mit finanziellen, zeitlichen und emotionalen Fragen verbunden. Was würden Sie jungen Pflegenden auf den Weg geben, die vor einer so wichtigen Entscheidung stehen und hadern, ob sie überhaupt ein Studium oder eine Ausbildung aufnehmen sollen? 

(Aus-)Bildung und Pflege zu vereinbaren ist nicht einfach. Ich würde jedem raten: Macht es trotzdem! Aus mindestens drei Gründen: Erstens besteht die Gefahr, dass Menschen, die pflegen, aus den oben genannten Gründen kein Studium oder keine Ausbildung beginnen, dadurch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, mit finanziellen, sozialen und gesundheitlichen Belastungen zu kämpfen haben und insgesamt ihre Lebensqualität sinkt. 

Zweitens sollten wir es den Bildungsinstitutionen nicht so leicht machen – wir brauchen Vorbilder und wir brauchen starke Stimmen, um das Ziel von „Caring Universities“ zu erreichen. Davon profitieren nicht nur Menschen mit Pflegeaufgaben, sondern alle Studierenden, Auszubildenden und Arbeitnehmer:innen an diesen Institutionen! 

Und drittens, auch das hat unsere Forschung gezeigt, bringen Menschen mit Pflegeerfahrung ganz viele Fähigkeiten und Ressourcen in ihre Ausbildung und später in den Arbeitsmarkt ein: sie sind sozial kompetenter, können intergenerationale Beziehungen stärken, wissen um die Vulnerabilitäten und Stärken pflegebedürftiger Menschen – das alles ist unbezahlbar in einer alternden Gesellschaft. 

 

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